M. Leuenberger: Versorgt und vergessen

Cover
Titel
Versorgt und vergessen. Ehemalige Verdingkinder erzählen. Vorwort von Elisabeth Wenger. Mit einem Epilog von Franz Hohler. Fotos von Paul Senn


Herausgeber
Leuenberger, Marco; Seglias, Loretta
Erschienen
Zürich 2008: Rotpunktverlag
Anzahl Seiten
319 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Gerrendina Gerber-Visser, Hist. Institut, Abt. Schweizergeschichte, Universität Bern

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war das Verdingen von unehelichen oder verwaisten Kindern sowie von Kindern aus Familien, die von der Fürsorge abhängig waren, an der Tagesordnung. Viele Kinder wurden auch von ihren eigenen Eltern verdingt, entweder weil das Geld für eine grosse Familie nicht ausreichte oder weil verwitwete oder geschiedene Elternteile nicht allein für die Kinder sorgen konnten oder wollten. Im schweizerischen Vergleich war das Verdingwesen im Kanton Bern besonders ausgeprägt. Auch viele aus andern Kantonen stammende Kinder wurden auf bernische Bauernhöfe verdingt.

Es gab zwar Aufsichtsbehörden und Vormundschaften, doch nützten diese
vielen Verdingkindern wenig, da sie sich täuschen liessen oder selbst die Meinung vertraten, nur viel Arbeit könne ein Kind zu einem tüchtigen Erwachsenen erziehen. Nach dem seelischen Wohl des Kindes wurde von behördlicher Seite nicht gefragt. Viele ehemalige Verdingkinder, deren Lebensgeschichten im Sammelband erzählt werden, berichten jedoch nicht nur von seelischen Qualen, sie wurden sehr oft auch körperlich misshandelt, wurden geschlagen, bekamen zu wenig zu essen, mussten in kalten Kammern schlafen und so viel arbeiten, dass keine Zeit mehr übrig blieb, um die Schulaufgaben zu erledigen. Manche Betroffenen berichten auch von wiederholtem sexuellem Missbrauch, dem sie hilflos ausgeliefert waren. Hinzu kam, dass die meisten Kinder etliche Male umplatziert wurden, in der Regel ohne Vorwarnung, leider oft auch dann, wenn sie an einem guten Pflegeplatz aufgenommen worden waren. Sobald sie alt genug waren, um zu arbeiten, wurden sie meist neu zu Bauernfamilien verdingt, wo sie als billige Arbeitskräfte dienten. Dort erhielten diese Kinder oft keinerlei emotionale Zuwendung und, wenn doch, dann in der Regel nur von einzelnen Personen im Haushalt. Die Stigmatisierung als Kinder zweiter Klasse ging oft so weit, dass nicht nur die Kostleute selbst, sondern auch Lehrpersonen und Schulkameraden die Kinder vom sozialen Leben ausschlossen. Einsamkeit und Rückzug in eine eigene Welt waren die Folgen, manchmal auch Fluchtversuche und frühe Heiraten, um endlich ein Zuhause zu finden.

Das Buch von Leuenberger und Seglias will in keiner Weise pauschal verurteilen. Es lohnt sich, die Lebensberichte vollständig zu lesen, weil gerade dadurch deutlich wird, dass es auch gute Pflegesituationen gab und auch Einspruch, sei es von Seiten von Nachbarn, von Lehrpersonen oder von noch lebenden Elternteilen. Doch scheiterten viele dieser Interventionen an der Haltung der Behörden. Eine der grossen Fragen, die sich bei der Lektüre stellen, ist eben jene nach den zuständigen Instanzen. Wie war es möglich, dass sozusagen unter den Augen der Öffentlichkeit derartige Missstände weiterbestehen konnten?

Um diese und andere Probleme aufzugreifen, sind die Lebensberichte im Buch in verschiedene Unterkapitel angeordnet, die jeweils einen kurzen Einführungstext enthalten, verfasst durch Historikerinnen und Historiker bzw. durch eine Erziehungswissenschafterin und einen Soziologen. Diese Texte sprechen die zeitgenössischen sozialen Probleme, die rechtliche Situation, die verschiedenen Formen der Gewalt, die subjektiven Verarbeitungsmechanismen und die psychischen Folgen an. Am Schluss findet sich zudem ein Kapitel mit methodischen Überlegungen. Die Lebensberichte selbst sind auf der Basis von Interviews mit Direktbetroffenen entstanden und wurden anschliessend von verschiedenen Verfassern redigiert. Es handelt sich dabei um eine Auswahl der im Rahmen des Nationalfondsprojekts «Verdingkinder, Schwabengänger, Spazzacamini und andere Formen von Fremdplatzierung und Kinderarbeit in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert» ausgewerteten Interviews mit ehemaligen Verdingkindern. (Zum Nationalfondsprojekt siehe auch www.verdingkinder.ch.) Die Lebensberichte hören nicht mit dem Ende der Kindheit auf, sondern informieren in aller Kürze auch über den weiteren Lebensweg der Betroffenen.

Im Bildteil finden sich 20 schwarzweisse Fotografien von Paul Senn, die Szenen aus dem Leben fremdplatzierter Kinder im 20. Jahrhundert dokumentieren. Dabei wurden neben Verdingkindern auch Kinder in Erziehungsanstalten dargestellt. Das Vorwort wurde von einer betroffenen Frau verfasst, der Epilog von Franz Hohler. Der Anhang enthält Anmerkungen, Bildnachweise, Bibliographie und ein Glossar zu den Mundartausdrücken, die aus den mündlichen Aussagen in die zusammenfassenden Texte eingeflossen sind.

Das Buch beeindruckt durch seine Authentizität und ergänzt in dieser Beziehung die Ausstellung «Verdingkinder reden» im Käfigturm, die noch bis am 27.6.2009 in Bern zu sehen ist und ab Ende Juli bis November 2009 im Musée historique de Lausanne gezeigt wird. Marco Leuenberger und Loretta Siglias sowie die zahlreichen mitarbeitenden Autorinnen und Autoren geben durch die Kombination von Hintergrundtexten und Einzelschicksalen Einblick in ein trauriges Kapitel der jüngeren Geschichte. Sie gewähren damit den Betroffenen jene Beachtung, auf die sie so lange warten mussten.

Zitierweise:
Gerrendina Gerber-Visser: Rezension zu: Leuenberger, Marco; Seglias, Loretta (Hrsg.): Versorgt und vergessen. Ehemalige Verdingkinder erzählen. Vorwort von Elisabeth Wenger. Mit einem Epilog von Franz Hohler. Fotos von Paul Senn, 319 Seiten, ill., Zürich, Rotpunktverlag, 2008. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 71, Nr. 2, Bern 2009, S. 59f.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 71, Nr. 2, Bern 2009, S. 59f.

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